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Fit for 55: Industriepolitische Perspektive gebraucht

Mit dem am 14. Juli 2021 veröffentlichten Fit for 55-Paket hat die EU-Kommission ein umfassendes Gesetzespaket im Rahmen des Green Deal vorgelegt, das den Weg zum Erreichen der ambitionierten Klimaziele der Europäischen Kommission vorgibt. Das Paket unterstreicht die Vorreiterrolle Europas im globalen Klimaschutz. Jedoch muss es der Anspruch der Europäischen Union sein, Klima- und Industriepolitik miteinander zu verbinden und eine klimaneutrale starke Industrie zu schaffen. Andernfalls wird die Strahlkraft des Ziels, ein klimaneutrales Europa bis 2050 zu erreichen, seine Wirkung verfehlen und keine Nachahmer finden.

Fit for 55: Den Vorschlägen fehlt eine industriepolitische Perspektive

Die Stahlindustrie in Deutschland begrüßt, dass mit dem Fit for 55-Paket nun erste konkrete Vorschläge vorliegen, wie die Klimaziele bis 2030 erreicht werden sollen. Allerdings fehlen noch wichtige Dossiers. Zudem lassen die vorliegenden Gesetzesvorschläge in Summe eine industriepolitische Perspektive vermissen. Die Stahlindustrie in Deutschland steht vor der großen Herausforderung der Transformation hin zu klimafreundlichen Produktionsverfahren. Dazu braucht sie einen kohärenten politischen Rahmen, der über verschiedene Politikfelder ineinandergreift. Ein solcher ganzheitlicher Ansatz wird jedoch weder durch die bisherigen Vorschläge abgebildet, noch das Zusammenspiel der verschiedenen Dossiers in einem umfassenden Impact Assessment untersucht.

Transformation braucht unterstützenden Rahmen statt Mehrbelastungen

Insbesondere spiegeln die Entwürfe zu den Dossiers nicht hinreichend wider, dass die Umstellung auf klimaneutrale Verfahren stufenweise erfolgt. Dies gilt für die Revision des europäischen Emissionsrechtehandels (ETS) und das neue Instrument eines Grenzausgleichsmechanismus (CBAM), mit gravierenden Auswirkungen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Stahlindustrie in Deutschland und auf die Möglichkeit, die für das Erreichen der 2030 Ziele notwendigen transformativen Prozesse zeitnah einzuleiten. CO2-intensive und CO2-neutrale Stahlerzeugungsverfahren werden nebeneinander in einer Übergangsphase existieren und müssen gleichermaßen wettbewerbsfähig sein.

Nicht ausreichend Raum findet auch die Überlegung, dass gerade die Phase des Hochlaufs CO2-armer und CO2-neutraler Verfahren bis 2030 entscheidend sein wird für den Erhalt des Industriestandorts Europa und den Aufbau europäischer grüner industrieller Wertschöpfungsketten. In dieser besonderen Phase kommt es darauf an, transformative Prozesse zu ermöglichen und zu unterstützen, statt durch weitere Belastungen, insbesondere in Form der vorgesehenen Kürzung der freien Zuteilung im Rahmen der Revision der ETS-Richtline, Investitionsspielräume zu entziehen.

Wechselwirkungen bleiben unberücksichtigt

Zwischen den verschiedenen Dossiers bestehen zudem Wechselwirkungen, die bei inkohärenter Ausgestaltung die Transformation hemmen können. So soll auf der einen Seite über die Revision der Erneuerbaren-Energien-Richtlinie, in der eine ambitionierte Industriequote vorgeschlagen wird, eine hohe Nachfrage nach grünem Wasserstoff angereizt werden, zugleich droht aber über eine restriktive EU-Grünstromdefinition im Rahmen eines noch im Dezember erwarteten delegierten Rechtsaktes das Angebot an klimaneutralem Wasserstoff beschränkt zu werden.

Die Dossiers müssen im weiteren Gesetzgebungsverfahren daher entscheidend nachgebessert werden, um die Transformation der Stahlindustrie in Deutschland nicht zu gefährden und den Hochlauf von grünem Stahl in der EU zu ermöglichen. Gerade die Stahlindustrie in Deutschland kann entscheidend zur Klimaneutralität und zum Erreichen der Klimaziele 2030 beitragen. Durch die Umstellung auf klimafreundliche Verfahren können bereits in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre substanzielle Mengen an CO2‑Emissionen reduziert werden.

Um die industrielle Transformation zu ermöglichen, sind aus Sektorsicht vordringlich die folgenden Aspekte in dem Fit for 55-Paket zu adressieren:

Bereitstellung eines effektiven Carbon Leakage-Schutzes

Solange kein einheitlicher globaler CO2-Preis etabliert ist, braucht es wirkungsvolle Carbon Leakage-Schutzinstrumente. CBAM kann eine wichtige Rolle in der zukünftigen Architektur des Carbon Leakage-Schutzes spielen, jedoch müssen zuvor bestehende Schwachstellen, wie beispielsweise das hohe Risiko von Umgehungstatbeständen, behoben werden. Des Weiteren ist es entscheidend, dass Exportrabatte aufgenommen werden. Um Experimente auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit der Stahlindustrie zu vermeiden, muss es eine Testphase bis mindestens 2030 geben, in der die bereits etablierten Carbon Leakage-Instrumente der kostenfreien Zuteilung und Strompreiskompensation beibehalten bleiben.

 

Schaffung von Transformationsanreizen / Ermöglichung der Transformation

Den Unternehmen der Stahlindustrie dürfen keine Mehrkosten durch eine Abschmelzung der freien Zuteilung entstehen, durch welche die Investitionsspielräume gemindert und somit die notwendigen Investitionen in die Transformation gefährdet werden. Freie Zuteilung und Strompreiskompensation bis 2030 sollten daher auf dem bisher für die vierte Handelsperiode festgelegten Niveau fortgeführt werden. Jedenfalls sollte eine uneingeschränkte freie Zuteilung immer dann gewährt werden, wenn ein Unternehmen nachweislich konkrete Transformationsprojekte oder -aktivitäten auf den Weg bringt, mit denen sichergestellt ist, dass sie zum Erreichen der Klimaziele beitragen und zu keinen Lock-In-Effekten führen.

 

Bereitstellung der energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen

Um die Ziele der Transformation zu erreichen, ist der Einsatz von klimaneutralem Wasserstoff in der Stahlindustrie unerlässlich. Dieser muss in ausreichender Menge und zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung stehen. Dies wird auf absehbare Zeit nicht der Fall sein. Aus diesem Grund fordert die Stahlindustrie, dass für die Zeit des Umbaus und der Umstellung des Anlagenparks auf klimafreundliche Verfahren Flexibilitätsoptionen wie Erdgas oder blauer/türkiser Wasserstoff ermöglicht werden.

Medien­informationen

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